Sonntag, 29. November 2015

+++ SMS-Alarm +++ Teil III

Den Anfang verpasst? Hier kommst du zu Teil I!

Wir schenken unermüdlich Wasser und schwarzen Tee aus, die Kinder bekommen Milch. Zu jedem Teller Eintopf eine Semmel, Nachschlag gibt es nicht. 1.600 Portionen später ist der Topf leer, doch die Schlange geht noch immer bis vor die Tür. Das Team hinter der Theke improvisiert und so bekommt der Rest der Hungrigen Semmeln und Krapfen zum Mittagessen (für den nicht-bayerischen Volksmund: Brötchen und Berliner). Niemand beschwert sich, alle werden satt. 

Auch lange nachdem jeder Flüchtling etwas zu essen bekommen hat, sind wir ohne Unterbrechung beschäftigt. Von unserem vormals sechs-köpfigen Team sind ein junger Mann und ich übrig geblieben. Wir kochen weiter Tee, bereiten Babyfläschchen vor, geben Windeln heraus und versorgen die Migranten so gut wir können. 

Unsere Arbeit war weder geistig anspruchsvoll, noch körperlich anstrengend, doch als ich abends die Halle verlasse und an der Bushaltestelle sitze, bin ich so erschöpft und ausgelaugt, als hätte ich Bergtour und eine 20-seitige Seminararbeit in einem hinter mir. Ich schaue in den wolkenverhangenen Himmel und weiß, ich kann jetzt nachhause. Auf mich warten eine warme Wohnung, ein (manchmal mehr, manchmal weniger) voller Kühlschrank und ein Zimmer, dessen Tür ich schließen kann, wenn ich Zeit für mich brauche. Ich atme die kalte Herbstluft ein und bin nur dankbar, wie gut es mir geht. Der Kloß ist wieder da. 








Blickkontakt



Mein Koffer ist schwer, wieder habe ich viel zu viel eingepackt. Hinter mir liegt ein wunderschönes Wochenende zuhause am Rande von München. Soeben hat mein Vater mich zum Bahnhof gefahren und mich noch einmal lange umarmt. Ich sehe ihm an, dass er traurig ist, dass ich schon wieder fahre. Ich gehe den Bahnsteig entlang, beschäftigt mit meinem Koffer, nehme nichts so richtig wahr. Ich steige ein, setze mich und ordne meine Sachen. 

Da bemerke ich sie das erste Mal. Mein Blick fällt auf eine junge Mutter mit ihren sieben Kindern. Ihrem Aussehen nach zu urteilen, kommt die Familie aus dem nahen Osten. Sie sitzen auf ungemütlichen Metallstühlen am Münchner Bahnhof, direkt an meinem Gleis. Das jüngste Kind schläft auf dem Schoß der Mutter, den Arm weit abgestreckt vom Körper. Es ist ein kleines Mädchen. Abwesend streichelt die Mutter sanft über ihren Kopf.

Soweit ich es richtig sehe, haben glücklicherweise alle warme Klamotten an. Tief haben die Jungen und Mädchen ihre Mützen ins Gesicht gezogen. Sie lachen miteinander, eine alte Frau mit Gehstock und weißem Haar sitzt neben einem der Jungen und spielt mit ihm. Auch wenn sich die alte Frau  nicht mit ihm unterhalten kann, so versucht das ungleiche Paar durch Mimik und Gestik zu kommunizieren. 

Die Mutter der Kinder kann nicht älter als dreißig Jahre alt sein. Ihr schlecht blondiertes Haar ist in einem unordentlichen Knoten nach oben gesteckt, ihr Gesicht zeigt einige Sorgenfalten. Sie wirkt abgekämpft und müde, zeigt aber trotzdem jedem ihrer Kinder ein großes Maß an Zärtlichkeit. Ich kann nicht hören über was sie reden, denn ich sitze ja im Zug. Ohnehin würde ich sie nicht verstehen. Immer wieder ein Lachen. Unwillkürlich muss auch ich schmunzeln.

Wo ist ihr Mann, frage ich mich. Zuvor hatte ich noch drei Polizisten gesehen. Wieso tut niemand etwas, um dieser Familie zu helfen? Ich sitze im Zug und starre sie ungewollt an. Zuerst bemerken sie mich gar nicht, doch kurz bevor wir losfahren habe ich Blickkontakt mit der Mutter. Ich möchte ihr sagen „Ich starre nicht, weil ich euch nicht hier in Deutschland haben will. Ich starre, weil ich mir nicht vorstellen kann, wie lange ihr schon auf dieser anstrengenden Reise seid. Was ihr gesehen und erlebt habt.“ Doch sagen kann ich ihr das nicht. Stattdessen lächle ich ihr noch ein letztes Mal zu, der Zug beginnt sich langsam in Bewegung zu setzen. Nie werde ich erfahren was mit ihnen geschehen ist. Es ist ein einzelnes Schicksal von vielen. In knapp zwei Stunden komme ich in Passau an, wo mir tausende dieser Schicksale begegnen werden.

Schwarz - Rot - Gold

Montag, 09. November


Es ist mein erstes Mal. Über die facebook-Gruppe „Passau verbindet“ trage ich mich in den Schichtplan der DEKRA-Halle ein, um bei der Essens- und Trinkensausgabe zu helfen.
Nach einer kurzen Einweisung, schaue ich mich ein wenig um. Neben der Essens- und Trinkensausgabe befindet sich eine Malecke für die Kinder. Die Trennwände der Malecke sind dicht bepflastert mit Gemaltem. Die Bilder zeigen unterschiedlichste Motive: „I love you“, Herzen, afghanische Flaggen, deutsche Flaggen, „Thank you Germany“. Ein Bild zeigt ein großes weinendes Auge und am Rand steht „I love you Syria“. Ich frage mich wer diese Kinder und Jugendlichen waren, die diese Bilder gemalt haben. Was haben sie in den letzten Wochen erlebt? Was erhoffen sie sich? Was vermissen sie? Waren sie alleine oder zusammen mit ihren Familien?
Ein kleiner Junge kommt schüchtern um die Ecke und geht bedächtig an den Malereien der Kinder vorbei, die vor ihm die Ankunft in Deutschland, in dieser Halle hinter sich gebracht haben. Hin und wieder bleibt er stehen und streicht dann sanft über das Bild. 




Ich setze mich zu ihm, ziehe meine Handschuhe aus, denn ich fühle mich ein wenig befangen mit diesen blau-leuchtenden Hygienehandschuhen. Sein Name ist Nazir. Ich bringe ihm einen Becher Wasser und frage ihn wie alt er ist und mit wem er hier ist. Grinsend zeigt der kleine Junge mir sieben Finger und sagt: „mâdar, barâdar“ – Mama und Bruder.
Behutsam greift er in die Schachtel mit dem Papier und scheint über die Auswahl nicht sehr erfreut zu sein, denn alle Blätter sind auf der Rückseite mit einer Firmengrafik bedruckt. Mit Händen und Füßen mache ich ihm klar, dass es leider nichts anderes gibt. Wenn ich daran denke, was dann passiert ist muss ich immer noch schmunzeln. Nazir sagt etwas in seiner Muttersprache, (Ich habe später gegoogelt: in Afghanistan werden insgesamt bis zu 49 Sprachen gesprochen. Der Großteil der Bevölkerung spricht allerdings Dari, die umgangssprachliche Bezeichnung für persisch) doch ich verstehe natürlich kein Wort von dem was er will. Ich biete ihm alles an. Andere Stifte vielleicht? Das falsche Papier? Essen, Trinken, Toilette? Er schnauft einmal resigniert. Dann legt er seine kleine, olivfarbene Hand vorsichtig auf das Papier und versucht eine Linie zu zeichnen – und da geht mir ein Licht auf. Er wollte ein Lineal! Ich falte ein paar der alten Blätter, um ihm ein provisorisches Lineal bieten zu können. Dankbar lächelt er mich an und trennt das untere Drittel behutsam durch eine Linie ab. Ah, denke ich mir, vielleicht möchte er die afghanische Flagge zeichnen, die habe ich hier schon von einigen anderen Bildern begutachten dürfen. Aber Nazir ist schneller, als ich meinen Gedanken zu Ende führen konnte. Er greift nach einem gelben Wachsmalstift und fängt in penibelster Feinarbeit an das Feld auszumalen. Kein Strich geht daneben und das Bild leuchtet bald in einem kräftigen gelb. Nun greift er in die Kiste und zieht einen roten Stift hervor; Schwarz – Rot – Gold. Ich glaube ich habe in meinem ganzen Leben noch nie eine Deutschlandflagge gezeichnet...

+++ SMS-Alarm +++ Teil II

Der Polizist und ich durchqueren die Halle, ich vermeide Blickkontakt aus Angst, die Flüchtlinge könnten sich begafft fühlen. Schließlich erreichen wir eine Theke und mein Begleiter kehrt zurück an seinen Posten. Ein Geruch aus Eintopf und Chai steigt mir in die Nase und ich begebe suche mir einen Weg in die Küche. Die Essensausgabe ist in vollem Gange und es gibt keine Zeit, sich mit langen Erklärungen aufzuhalten. Ich bekomme Handschuhe und Warnweste und ich werde dem Team am Getränkeausschank zugeteilt. 

Und dann stehe ich einer nicht endenden Schlange von hungrigen Flüchtlingen gegenüber. Vom grauen Mann im Anzug bis hin zum wenige Wochen alten Säugling auf dem Arm seiner Mutter - plötzlich hat die Krise für mich ein Gesicht. Und dieses Gesicht strahlt vor allem eines aus: Dankbarkeit. Doch hinter den dunklen Augen liegt oft auch ein anderer Ausdruck, den ich nicht definieren kann, der mich aber erschaudern lässt. Die Blicke der Menschen vor der Theke sind gezeichnet von Erinnerungen, die ich mir wahrscheinlich nicht einmal vorzustellen vermag und ich versuche ihnen so positiv und optimistisch wie möglich zu begegnen. 


Aber es gelingt mir nicht. Ich muss eine Pause einlegen, gehe hinter an die Spüle, wo mich keiner sieht und atme ein paar Mal tief durch. Wenn ich wüsste, wie sich das anfühlt, würde ich sagen, meine Seele tut weh. Später an diesem Abend werde ich mit meiner Mutter telefonieren und ihr davon erzählen. Ich werde ihr sagen, dass ich nicht begreife, warum mich ein so banales Erlebnis, wie eine Essensausgabe so tief berühren konnte. Wie immer wird sie die richtigen Worte finden und es mir erklären können. Jede einzelne Begegnung ergreift - wenn auch vielleicht nur für einen kurzen Moment. Ich stelle mir vor, woher sie kommen, was sie zurückgelassen haben und wohin sie ihr Weg noch führt. Auch meine Zukunft ist ungewiss, aber auf angenehme Art und Weise. Ich wiege mich in einer inneren Sicherheit, die statt Zukunftsangst ein Lass-Dich-Überraschen bereithält. Das Leid der Massen steht nun nicht mehr nur in der Zeitung, es steht mir gegenüber. Und es fällt schwer, das zu verarbeiten.

Willkommen


Brežice – eine Grenzstadt in Slowenien. Hier leben circa 25 000 Einwohner. Früher hat die Stadt vor Allem als Erholungsgebiet Besucher angezogen. Doch die syrischen Flüchtlinge wurden hier alles andere als willkommen geheißen. 

Es ist Montagabend, ich habe mich den ganzen Tag mit anstehenden Uniprojekten beschäftigt und bin dementsprechend erschöpft. Ich steige die steilen Treppen hinauf zur Wohnung meiner Freundin Helen. Außer Atem komme ich oben an. Als sie mir die Tür öffnet, kommt mir ein afrikanisch aussehender Mann entgegen, später stellt sich heraus, es ist ein äthiopischer Freund von Helen.  Die beiden umarmen sich und sie spricht ihm Mut zu. Lächelnd verabschiedet er sich von uns. Das ist keineswegs eine untypische Situation, wenn man bei ihr zu Gast ist. Helen´s Tür ist egal für wen stets offen. Sofort steigt mir der wunderbare Duft von Essen in die Nase, im Ofen bäckt schon der erste Flammkuchen. Doch diesesmal bin ich nicht für einen netten Abend unter Freunden hergekommen. Helen wird mir von ihren Erlebnissen an der slowenisch-kroatischen Grenze erzählen. Von Leid, Fassungslosigkeit und menschenunwürdigen Zuständen.

Alles begann damit, dass eine Gruppe von fünf Studentinnen aus Passau nicht mehr länger zusehen wollte. Sie beschlossen die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Spenden für ihre Reise nach Slowenien kamen schnell zusammen, am Ende waren es sogar 6000€ und ein Berg an warmen Klamotten für die vielen Flüchtlinge. „Der ganze Kirchplatz war voller Sachen“, schmunzelt meine Freundin als sie mir davon erzählt. Zwei Tage hatten sie Zeit um den Trip zu organisieren. Unwillkürlich muss ich den Kopf schütteln. Dass man in so einer kurzen Zeit so ein Projekt auf die Beine stellen kann, hätte ich nicht gedacht. Als die Gruppe schließlich losfährt, hat keiner der Beteiligten eine Ahnung was sie erwarten wird.

Die erste Nacht in Brežice ist von purer Fassungslosigkeit geprägt. Helen sieht Panzer und stark bewaffnete Polizisten in schusssicheren Westen. Einer dieser Polizisten bietet ihnen an, sie zu einem Feld zu fahren. Auf diesem Feld gibt es nichts außer sechs Dixi-Klos. Kein Essen, kein Trinken, keine Zelte, in denen sich Menschen wärmen könnten. Es ist mitten in der Nacht als die fünf  Studentinnen dort eintreffen.  Sie sehen 3000 Flüchtlinge, die von Polizisten zusammengepfercht wurden. „Open the boarders“, schreien manche von ihnen. Die Männer und Frauen wollen nicht glauben, dass dies ihr Ziel, also Europa sein soll. Das Ziel wofür sie solche Strapazen auf sich genommen hatten. Die Menschen verbrennen Blätter, um sich daran wenigstens ein wenig zu wärmen. Auf diesem Feld werden sie nicht nur eine Stunde verbringen, sondern bis zu zwei Tage. Helen konnte diesen Anblick nur schwer ertragen. Sachlich erzählt sie mir, dass sie jedoch  in dieser ersten Nacht  nicht viel für die Flüchtlinge tun konnten, denn die Polizei befürchtete, dass es zu einem Tumult käme, wenn die Gruppe Essen und Trinken in der Menge verteilt. Also heißt es erst einmal nur abwarten.










Kroatien und Slowenien wird durch den Fluss Sutla getrennt, die Grenze überschreiten die Flüchtlinge über eine Brücke. Nachts kommen zahlreiche Züge am kroatischen Bahnhof an, von dort aus laufen die Menschen noch knapp einen Kilometer, um auf das Feld zu gelangen. Der Weg ins Camp dauert weitere 12 Kilometer. Die Gruppe aus Passau hat sich inzwischen mit Essenspaketen und Wasserflaschen an der kroatischen Grenze, dem Bahnhof positioniert. „Auf einmal strömen bis zu 2000 Leute auf dich zu, und du denkst dir scheiße, die anderen bekommen gar nichts mehr“. Wild gestikuliert sie, als sie mir von ihren Erlebnissen erzählt. Und so nehmen die Dinge ihren Lauf. RESET. Neues Essen holen und Brote schmieren. Im Akkord bereiten die Helfer alles vor. Pro Nacht kommen bis zu drei Züge voll mit Menschen an. Leute ohne Kleidung, dafür mit Kindern in ihrem Armen oder auf ihren Rücken. Ihre Habseligkeiten schnell eingepackt in nur einem Rucksack. Ein solches Bild kann ich mir gar nicht vorstellen, hier im behüteten Deutschland. 

Wo Helen anfangs noch sachlich erzählt hat, wird ihre Stimme inzwischen brüchig. Immer wieder muss sie eine kurze Pause machen. Ich kenne meine Freundin inzwischen schon lange und ich weiß, dass sie so schnell nichts aus der Fassung bringt. Schon seit einiger Zeit setzt sie sich für Flüchtlinge ein, ihr Herz hängt daran, Menschen zu helfen. Doch wenn sie jetzt eine Waschmaschine hört, bekommt sie eine Gänsehaut. Fährt zusammen. Zu sehr erinnert sie das Geräusch an die Militärhubschrauber, die über der Szenerie gekreist sind.

Eine Wand von Flüchtlingen wird angetrieben von schwer bewaffneten Polizisten. Helen stampft auf und imitiert das Geräusch, das die Menschenmasse gemacht hat. „Die Leute werden mit Militär und Gewalt empfangen“- paradoxerweise wollten sie genau diesen Umständen entfliehen.


Panzer gehören am kroatisch-slowenischem Grenzübergang zur Tagesordnung 






Insgesamt bleiben die Studentinnen drei Tage am Grenzübergang. Das Feld wird nach starker Kritik inzwischen nicht mehr als Sammelstelle genutzt. Kurz nachdem Helen wieder in Deutschland ist, habe ich sie zum Essen getroffen. Damals kam sie mir sehr gefasst vor. Doch heute weiß ich, dass sie ihre Emotionen verdrängen muss, um den Alltag zu meistern. Sie muss zur vermeintlichen Normalität zurückkehren. An der Grenze hatte sie nie geweint oder Schwäche gezeigt. Helen wollte stark sein für die Menschen. Doch zurück in der sicheren Heimat, bei Freunden und in Geborgenheit, brach alles aus ihr heraus.. Tagelang hat sie nur geschlafen, Stück für Stück ihre Akkus wieder aufgeladen. Zurück bleibt ein Gefühl von Frustration und Resignation.

Ich ziehe meinen Hut vor meiner Freundin und nicht nur vor ihr. Vor allen Menschen, die der Meinung sind, dass jeder Einzelne etwas bewirken kann. Die nicht bequem sind und sich denken, dass sich schon andere darum kümmern werden. Die handeln und nicht nur reden. Denn es geht um Menschen, die durch die Hölle gegangen sind und es ist das Mindeste, das wir sie wie unseres gleichen behandeln, in unsere Mitte aufnehmen und ihnen sagen: Willkommen, schön dass ihr da seid.