Sonntag, 29. November 2015

Blickkontakt



Mein Koffer ist schwer, wieder habe ich viel zu viel eingepackt. Hinter mir liegt ein wunderschönes Wochenende zuhause am Rande von München. Soeben hat mein Vater mich zum Bahnhof gefahren und mich noch einmal lange umarmt. Ich sehe ihm an, dass er traurig ist, dass ich schon wieder fahre. Ich gehe den Bahnsteig entlang, beschäftigt mit meinem Koffer, nehme nichts so richtig wahr. Ich steige ein, setze mich und ordne meine Sachen. 

Da bemerke ich sie das erste Mal. Mein Blick fällt auf eine junge Mutter mit ihren sieben Kindern. Ihrem Aussehen nach zu urteilen, kommt die Familie aus dem nahen Osten. Sie sitzen auf ungemütlichen Metallstühlen am Münchner Bahnhof, direkt an meinem Gleis. Das jüngste Kind schläft auf dem Schoß der Mutter, den Arm weit abgestreckt vom Körper. Es ist ein kleines Mädchen. Abwesend streichelt die Mutter sanft über ihren Kopf.

Soweit ich es richtig sehe, haben glücklicherweise alle warme Klamotten an. Tief haben die Jungen und Mädchen ihre Mützen ins Gesicht gezogen. Sie lachen miteinander, eine alte Frau mit Gehstock und weißem Haar sitzt neben einem der Jungen und spielt mit ihm. Auch wenn sich die alte Frau  nicht mit ihm unterhalten kann, so versucht das ungleiche Paar durch Mimik und Gestik zu kommunizieren. 

Die Mutter der Kinder kann nicht älter als dreißig Jahre alt sein. Ihr schlecht blondiertes Haar ist in einem unordentlichen Knoten nach oben gesteckt, ihr Gesicht zeigt einige Sorgenfalten. Sie wirkt abgekämpft und müde, zeigt aber trotzdem jedem ihrer Kinder ein großes Maß an Zärtlichkeit. Ich kann nicht hören über was sie reden, denn ich sitze ja im Zug. Ohnehin würde ich sie nicht verstehen. Immer wieder ein Lachen. Unwillkürlich muss auch ich schmunzeln.

Wo ist ihr Mann, frage ich mich. Zuvor hatte ich noch drei Polizisten gesehen. Wieso tut niemand etwas, um dieser Familie zu helfen? Ich sitze im Zug und starre sie ungewollt an. Zuerst bemerken sie mich gar nicht, doch kurz bevor wir losfahren habe ich Blickkontakt mit der Mutter. Ich möchte ihr sagen „Ich starre nicht, weil ich euch nicht hier in Deutschland haben will. Ich starre, weil ich mir nicht vorstellen kann, wie lange ihr schon auf dieser anstrengenden Reise seid. Was ihr gesehen und erlebt habt.“ Doch sagen kann ich ihr das nicht. Stattdessen lächle ich ihr noch ein letztes Mal zu, der Zug beginnt sich langsam in Bewegung zu setzen. Nie werde ich erfahren was mit ihnen geschehen ist. Es ist ein einzelnes Schicksal von vielen. In knapp zwei Stunden komme ich in Passau an, wo mir tausende dieser Schicksale begegnen werden.

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